Gedichte

“fragen an die wissenschaft – gedichte”
Hardcover mit Schutzumschlag, 90 Seiten, 2 Farbbilder, 10 SW Bilder, Brillantdruck auf 120 g Fotomattpapier
Verkaufspreis: 14.99 Euro
Auflage, 2021
© 2021 Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung:  © Wilfried Schaus-Sahm
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN 9783753405247

______________________________________________________________________________

fragen an die wissenschaft
(für wilson bentley)

gibt es einen hofnarren im bienenstock?
wer leitet den verkehr der ameisen?
und
ach ja
wie schwer ist bewußtsein?
manchmal schneit es noch im dezember
und jede flocke
fällt an ihren platz

prolysarik ist ein projekt, das anfang 2017 gestartet wurde. es geht darum, gesprochenen text mit kinetischer typographie zu verbinden. dazu wird eine eigens zu diesem zwecke entwickelte software verwendet


die qualen der grossen

irgendwo
in diesem gigantischen apothekerschrank
in einer dieser unzähligen schubladen
hatte hegel
das verb verlegt
mit dem er den seitenlangen satz krönen wollte

er trat ans fenster
und starrte auf die unerklärte welt

vom schnee der letzten nacht
war schon am morgen nichts geblieben
die magnolienbäume begannen ihre blüte
und bald würden die blätter die enge berliner gasse bedecken
ein renitenter köter zog sein herrchen an der leine hinter sich her

selbst später noch im traum
klang das gurren der tauben wie schadenfreude
und aus dem fenster seines tübinger turms
stierte schmunzelnd hölderlin


das frühstück im grünen
(für die alten magier)

dieses da
ist nur das grobe korn
der fallende quarz
einer sanduhr
in der dunklen kammer
eines frühen fotografen
im frühling
steigen
drei punktierte raucher
aus dem
schuhkarton
seiner enkel


wilhelm von hoegen liest gedichte von wilfried schaus-sahm (1)

wilhelm von hoegen liest gedichte von wilfried schaus-sahm (2)

 


frostiger sonntag

heute sind die hochhäuser
verschneite kapellen
die philosophen hocken
hinter den öfen
und entwerfen die frühjahrsgedanken
es fallen keine ameisen
von den stahlskeletten
der rum
kommt in mode
in den kaufhäusern
liegen die weißen mäuse
in folien verschweißt
die butter flieht aus dem kühlhaus
und legt sich kunstvoll
in ecken
teilweise löst der frost
das problem der armen
die reichen ziehen um
unter pariser brücken
auf den autobahnen eröffnen
kanibalische restaurants
einzig
in den warmen orten der welt
versteht man voodoo
wer jetzt
arbeitsloser maurer ist
wird es lange bleiben

 

„frostiger sonntag“ gesprochen von wolfgang tischer

 

 
lumen

mikrofilme
gestapelt unter das dach
eines wolkenkratzers
durchbrannt
von einer kerze
musik
aus einem ton
destilliert
aus den geräuschen
des fallenden hauses
nach dem spektakel
flüchten die bilder
es gibt
nichts mehr zu sehen

 

 
poet

was dich quält
ist papier
über
stunden geduldig
ist licht
das sich breit macht
bis in die teppichleisten
doch
da ist noch ein unterschied
zwischen hunger
und hunger nach worten
einem bild für die folter
und der folter

 

 
kaufhaus

in diesem haus
führt eine treppe
hinauf in den himmel der schläfer
es liegen aus
kataloge der lust
versichert sind wir
gegen ammenmärchen und steinwurf
wir nehmen bestellung
rund um die uhr

kappen für die augen
provisorien fürs hirn
einen maßgerechten glauben
gummi für die stirn
für die ohren wattebäusche
für die großen räusche polizei
für den trieb
ein paar ventile
ein paar ziele für die wut
für die wand
ein junges reh
für den hund ein stück filet
eine leiter für die kleinen
für die großen konfektion
wir führen
ständig neu im angebot
die straßen zu oasen
eile ist uns fern wie schuld
unser slogan: nur geduld
der neue mensch
ist wie der alte
im winter hat er kalte füße
aus dem urlaub schickt er urlaubsgrüße
hier wird der hunger
nicht zur plage
hier wird der durst
auch nicht zur not
willkommen ist uns jeder
umsonst ist nur der tod

 

 
flaneur in n.y.

ein trinkgeld
für den liftboy
den sklaven
der das steinerne auge der sphinx
auf die stadt türmte
just a dime
für den faust in der bowery
im vertrauen
es gibt mehr antworten als fragen
das ewige lächeln
des full time gottes money
an jeder ecke satisfaction
und nirgendwo ein pissoir

 

 

Èmile Friant
Les Amoureux (1888)

spinnweben hausbau

das tier
ist perfekt
ich nicht
halb vorbei
beginne ich
balken zu sammeln
und freue mich
an den wurmstichen
ich habe
mich gepaart

 

 
fassade

gestern
spülte der regen
birken in lachfalten
heute bröckelt der putz
das lachen reißt krater
bei jedem aufschlag der lider
geht ein mienenfeld hoch

 

 
lass uns trinken

das wort
ist ein glaselefant
mit kurzem gedächtnis
eine vage geschichte
aus glasigen augen
das wort
ist der wurm
auf dem glastablett
meine bosheit meine geduld
die schlieren
glasklar
sind durchsichtig lügen
was ich dir sage
mag sprühen wie sekt
es sind in der einzahl
mögliche scherben

 

 
kleingärtner

die sense
schneidet der luft
einen mund für sekunden
du spürest fast keinen hauch
die luft
küsst die sense
der kopf bleibt am hals

 

 
die falle

ein loch im papier
nichts
das uns treibt
der reisswolf
auf meiner fährte
stürzt in die perforation

 

 
heute hirn

es tropft
kein blut
in den auslagen
der metzger
unbefleckt
treten die ärzte
vor die staunenden laien
wir sind
wieder gesund

 

 
der beidhändige dichter

apfel banane
kaninchen und tauben
links rechts links
und umgekehrt
kaum zu glauben
doch jetzt wird es schwer
er wirft
mit scherben kindern und küssen
ist das noch erlaubt
wir staunen
es war nur
die erste abteilung
der tod die liebe die qual
und das nichts
da sind sie
vor aller augen
wer wird ihn hindern
– ein indischer trick –
am stabreim zu schweben
es genügt
nur ein blick
die luft ist leichter
als worte

 

 
faux pas

leicht
finden sich worte
sanft
federnd
parkett
sofort lässt sich reden
über schwankendem boden
ach ja
den schwankenden boden

 

 

vier wünsche
(für till)

wir schreiben uns
zwei leben ins gesicht
wir drücken die worte
ins holz des papiers
wir schicken voraus
ein schiff
leicht wie papier
ins wasser geschoben
prachtvoll
soll es stranden
an allen küsten
mutiger sehfahrer
unser kind soll etwas werden:
sein eigener lehrherr
und geduldiger schüler
der vorstellung des menschen
du sollst
die hexen und zauberer
anbeten
die zwei schöne geschlechter erfandendu sollst wissen
nie gab es diese leute
du sollst erstaunt sein
der zauber die hexerei
dauern
zwischen leben und tod
von mann und frau
du sollst
gar nichts

 

 
stolpern im takt

zur lüge
brauchst du
nur keinen grund
zum schweigen
nichts
als das nächste gespräch
den takt
zu jeder bewegung
schlägt das gefühl
tanz

 

 
perpetuum

wir wissen
picasso
verzierte
den löffel da vincis
der ein loch grub
in den ozean
kein protest der wellen
kein anspruch auf ein patent
ich nähre mein kind
das lacht
trotz der verbrechen
das kehrt immer wieder

 

 

mallorca im frühling

hast du die olivenbäume
in den mallorquinischen bergen gesehen
weiß der teufel
woher sie noch saft ziehen
zwischen den felsen
stehen
unverhofft irre
nirgendwo wärter
uralte exhibitionisten
drehen die mäntel zur sonne
ihr leib ist verdörrt mit der zeit
brüderlich kleben zusammen
alte paare
verschrobene drillinge
deren eltern weit über die berge sind
ein gutes motiv
für einen traurigen anblick

 

 
silbenrätsel im wartezimmer

ara antik alabaster
pubertät und pustekuchen
amor atoll attacke
die keuchenden stimmen
hunger und tanz
henker und hebamme
der puls die geburt
zeus und der krieg
gutenberg und die zeitung
das gesicht ohne alter
die keuchenden stimmen
hunger und tanz

 

 
was recht ist (sokratische version)

menschen
die worte tragen wie fackeln
fackeln nicht lange mit menschen
so ist die empörung gerecht
doch
die empörung
ist selbst
eine fackel
die dunkelheit
ist wie du
schlaftrunken empört
fällst du zurück
in barbarische zeiten

 

 
die ersten schritte des riesen in kindersommerschuhn

landläufig vermerkt
in den kleinen gemeinden
stecken die bauern
schultertief in der erde:
sie wollen salatköpfe werden
draußen geht ein riese
im stimmbruch spazieren
lärm kiekser donner
die kinder wollen
nach draußen
in ihrem nadelstreifenanzug
ihrem
kindersommerschuh
aus italienischem leder

 

 
niesche bastion

in den fluss
des adrenalins
ab und zu eine sperre
wovon träumen wir nicht
wer die sätze
nicht fortführt
wie der tag den traum
für den
das nackte leben

 

 

die kleinen helden manhattans

man sollte nicht die nase rümpfen über die bewohner dieser seltsamen insel. wer immer sie betritt, wird kopflos.
im stakkato der bildwerfer, die er, der große elektriker, in ihren behausungen installiert hat, zerfällt alles unter der schädeldecke, was nicht als leinwand für seine abwechslungsreichen späße dienen könnte. er liebt seine helden und füttert sie mit amusement. allmorgendlich begrüßt er sie als busfahrer und bringt sie aus den vororten in seine arena. dort kämpfen sie um seine gunst. like zeus hat er tausend gesichter und lässt sie glauben, auch er sei verletzlich, auch ihm könne man beischlafen. so hält sich die mär, er habe in der gestalt eines neonstrahlenden schwans eine frau verführt, deren tochter man rita hayworth nannte. als trunkener al capone soll er sinatras gezeugt haben. an den wochenenden pilgern die alten in seine mekkas und streiten gegen ihn, der sich als einarmiger krüppel tausendfach kostümiert hat. liebevoll kutschiert er sie nach ihren niederlagen nach hause, in den gleichen bussen, airconditioned, mit denen er ihre tüchtigen kinder wochentags in die city bringt. jedem lächelt er zu: have a nice day!

 

 
kein wort für dich

das geflecht der worte
ist das des korbes
auf weinbergen
es trägt nur die trauben
auch die kunst
der winzer und glasbläser
ist nicht der wein

 
   

gesagt getan
(das pamphlet)

zwischen den zeilen
hockt ein asketh
auf dessen kopf
thront ein schweratleth
der spaltet die haare
von aufstehn war die rede
die rede auch von märschen
die sache löst sich auf
in luft
ein zweigeteilter duft
bleibt auf den stühlen

 

 
fazit

also herren
späte stunde
teilweise weggetreten
gesocks am ende
gefühl: bäume ausreißen
kleine feier usw.
damen einladen
motto für abend:
zur sache kommen
zur sache gehen
strahlende zukunft
kleinkrieg vergessen
welt
aus den angeln heben

 

 

repeat

den lauf des gepards
in zeitrafferschritten
als test für seine gelenke
ganz ohne warnung
zurück

 

 
eins nach dem anderen

ein schritt
vor dem nächsten
zuerst
das ei der weisen
dann
den stein des kolumbus

Lars Gustaffson
(im Frühstücksraum des Nyhyttan Campus)
Ry Cooder
Which came first?
https://www.youtube.com/watch?v=BoEc_UNNmPg

 

 
feature

23:10 pressekonferenz
… brillant schwarz
zeichnet das licht die konturen
ein heller kopf
im späten scheinwerferlicht
8:30 frühstück im eigenen garten
… die frühen strahlen der
oktobersonne
geben ein weicheres licht
unser mann frau und kinder
eine familie wie andere
sie werfen schatten in die
herbstblätter des kirschbaumes
das gibt uns die gelegenheit
näherzutreten und erste fragen …
… scheiße
– was ist
… der hund
– weiter
… jetzt wird es farbig
der ministerpräsident tätschelt
seinen hund
es kommt gewissermaßen
blut in den menschen
wir stellen erste fragen
er hat einen schwarzen hund
er will unser schäfer sein
er hat seinen hund aus dem feuer gerettet
er zeigt uns seine grauen anzüge
für die auswahl der krawatten
ist seine frau zuständig
auch für die unterhosen mit eingriff
der ministerpräsident wird rot
es kommt gewissermaßen blut in den menschen
hat er noch ein privatleben
der sohn spielt fußball
die tochter macht abitur
die frau ist aktiv in der kirche
die kirschbäume in diesem garten hat er selber …
– gut so, weiter
… so geht es nicht weiter
sagt er und dieser mann
meint was er sagt
glauben sie
dass der glaube
glauben sie
dass die kirsche …
23:15 eigenheim
… es ist später abend geworden
auch dieser mann
wirft nach 12 stunden schatten
– zu dunkel
… unsere republik
die die
eine andere republik
die die
ich werde jeden eingriff …
– von vorne mehr licht
… von vorne sieht der ministerpräsident nichts
von vorne sieht der ministerpräsident
aus wie eine kirsche
brillant schwarz
zeichnet das licht die konturen
die frühe herbstsonne
zeigt uns ihre grauen anzüge
jetzt endlich
wird es farbig
der blutige ministerpräsident
hat abitur
sein sohn spielt fußball
in der kirche
die konjunktur lässt sich nicht
gesundbeten
seine frau und der hund …
– was ist mit dem hund
… ich sehe nicht
warum nicht auch ein hund
abitur …
… für seinen hund
legt der ministerpräsident
seine hand ins feuer

 

 
verhandlungsbasis

tausche
einen karton verse
gegen
ein geschwätz
das sich reimt
lüge
wie gedruckt

 

 

für timo konietzka

wer sagt denn
dass fussballer dumm sein müssen
wie brot
oder lothar heißen
dass sie
im nachruf entschuldigt werden
mit spielerischer intelligenz
die einen kriegen einen riesenbauch
wie puskas
die andern palavern bis oder weil
sie nicht mehr laufen können

timo konietzka
war weise und klug
und hat
nicht nur auf dem platz
die richtigen entscheidungen getroffen

 

 
vaters tod

die kleine gemeinde
löst sich auf
auf dem sarg siebzig rosen

still wie gewohnt
der meister in solchen belangen
bleibt noch
ein feinsinniger herr
mit einem hang zum massaker
er verweist auf die nächsten termine

 

 
   

hommage an dieter krieg

ich liebe die dreidimensional
perspektivisch
verfliessende
oberfläche eines dotters
die darstellung
exakt empfundener bratzeit
die durch gute butter
entstandene randkruste
eines spiegeleis

transzendenz
entsteht in der pfanne
schönheit
wahre schönheit
im auge des betrachters

 

 
everythings broken (für bob dylan)

die türe klemmt
das wasser tropft
seit gestern fehlt am hemd ein knopf
seit gestern gibt’s kaffee statt tee
seit gestern fehlt fürs brot gelee
seit gestern scheint die frau auch tot
gelee kaffe
die hungersnot
ich möchte rasen
hundekot
der makellose mann hat hier kein kloo
es fliehen tiere aus dem zoo
es gibt kein fahrrad für den fisch
es fehlt das dritte bein am tisch
die raucherlounge gehört zur raucherlunge
es ist kein wort mehr auf der zunge

 

 
mallorca im winter

wie waren die letzten tage
ruhig: ohne größere höhepunkte
freundlich erstaunt:
dabei kann die ruhe
durchaus zu einem höhepunkt heranreifen
oder man kann einen kleinen höhepunkt inszenieren:
mallorca
ist ruhig im winter

 

 
maler 1

magritte

ein glas
auf dem dach eines regenschirms
davor
zieht papa hegel
seinen löchrigen hut

 
maler 2

francis bacon

gestraft
mit seinen gesichtern
skizzierend
portraits aus den reflexen seines augapfels
in der linken hand den pinsel
die rechte,
gepresst auf die leinwand,
vollzieht eine drehung im gesicht des portraits
größer
als der mögliche winkel des handgelenks
der trick ist genauer
als die kopie
der bilder des films
hinter seinen augen
in seinem sekundengesicht
mit dem er sich straft
er wendet sich ab
ein bild ist vollendet

 

 
schach

varianten
mehr
als das weltall atome
das ist nicht die welt
das ist eine ahnung
so falsch wie der krieg
vier reihen figuren
mit jeweils zwei gesichtern
varianten
mehr als das weltall atome
fenster und türen
wege und fluchten
poren der haut

 

 
schwitzen wie ein neger

das rhythmische trommeln
der finger des herrn
auf tischen aus ebenholz
urwald
unterholz
untermensch
das rhythmische tickern
der börse
auf perforiertem papier
wert
unter wert
unterschreiben
rein in die sauna
wuchern
mit den pfunden
palaver nichts als palaver
die pimmel der watussi
sind so lang wie die wallstreet

 

 
   
nähe

wir grillen heute schweinetier
wir essen
kotelett wurst und bauch
wir trinken kästen voller biere
die nachbarsleute grillen auch
frau müller brät gerade
ihr würstchen auf dem grill
ihr mann wirkt müde
trinkt zuviel
herr schmitz
der star auf unseren festen
gibt einen ersten witz zum besten
die türkenfrau – das känguru
man lacht sich schief
das känguru

die sonne steht im abendrot
herr schmitz frau müller
rücken enger
herr müller fällt tomaten tot
der abend
wird noch länger
herr schmitz ist jetzt in fahrt
so machen sie´s
in anatolien
man lacht sich schief
inzwischen
ist die welt auch schief
schief ist schief
und fünf ist gerade
der hund des nachbarn
bleibt ein letzter freund des menschen

frau müller
legt sich spät zur ruh
die türkenfrau
das känguru
herr müller
wird sehr spät noch zärtlich
herr müller
starb in dieser nacht
herr schmitz erlag dem herzinfarkt
der nächste sommer
liegt in weiter ferne
frau müller
lebt derzeit alleine


dédié à la fontaine

der tolle hecht
sprach zum karpfen
wir sollten hier raus
etwas besseres
als den tod
finden wir allemal

 

ein koch nimmt sich sein leben

er konnte aus „fast nichts“ etwas zaubern
sein leib wird im garten begraben
aktuell gießt der praktikant  das gemüse im hochbeet
ein koch nimmt sich sein leben
und sein feind erscheint
im gault millau:
„die verschlungenen wege eines algorithmus
sind bekannter als die herkunft dieses fenchel“
ein koch nimmt sich sein leben
und wird von würmern verspeist
sein enzensberger riesling
zum fisch
wird unvergesslich bleiben

es ist alles da zum verzehr

 

fragen an die wissenschaft
(für wilson bentley)

gibt es einen hofnarren im bienenstock?
wer leitet den verkehr der ameisen?
und
ach ja
wie schwer ist bewußtsein?

manchmal schneit es noch im dezember
und jede flocke
fällt an ihren platz

 

passagiere eng gesetzt

runter kommen sie immer

von ihren ablenkungen
allerdings erst nachts
keine raucher
die proletarisierte catwalklässigkeit beim
checkcheckckeckin
immer zukunftsgewandt und demnächst auch telepatisch
trotz ortswechsel eigentlich immer entspannt

– beflügelt!

und fallen doch ab in den modder des traums
des traums aus dem es kein erwachen gibt
und keine
scherzhaft „flieger“ genannten
abenteuerlichen gerätschaften

 

 

hommage an walter dahn

was bleibt von diesem sommer, was bleibt vom raucherbein, was bleibt von walter dahn?

 

mein garten mein center court

wie der frosch
geduldig
in seinem refugium
am ufer
im efeu
in der oktobersonne
bevor er
nach gefühlten stunden
zielsicher
mit der lassozunge
zuschlägt
auf der mitte des teichs
auf dem
center court
auf dem
nur
ein
könig
herrscht

sitze ich

im lärm der nachbarn
mit einem buch in der hand
spuckeweit
ausserhalb des terrains
und
durchaus bereit
zuzuschlagen

um dann doch
schon vor dem aufschlag
wegzudämmern

für minuten
spielunfähig
schläft mir
bei grünbein
der arm ein

versunken
im modder
aus erfahrung und erinnerung
lust angst und agression
mit
lichtreflexen
unter den lidern
aufzuckend und verschwimmend
in meinem ozean

sind es
die alten und neuen siege und niederlagen
die mich zurückspülen
an den vagen horizont
die grundlinie
die wir zum überleben brauchen
wenn die erde
wieder täglich
nach links weg kippt

 

 

koboldmaki

mein vorfahr
ab sofort
mein wappentier
mein passwort auch

fünf finger
und die ellenlange story
ganz alter adel
scheu und flink
mit soo grossen augen
die „zwangsläufig intelligent erscheinen“

unfähig
grössere tiere zu töten

noch ein charmanter verwandter
der vor uns
nicht schnell genug
auf den baum
kommen wird
__________

feuchtnasenprimaten (strepsirrhini)
trockennasenprimaten (haplorhini)
koboldmakis (tarsiiformes)
affen (anthropoidea)
(dank an raymond cartier: „die welt, woher sie kommt, wohin sie geht“. 1959.)

 

dr. freud, die kirche, der ablass und die kunst

ich hatte vor tagen
einen patienten
der mir ein bild
abkaufen wollte
um sich zu entschuldigen

wir sind nicht in der kirche
habe ich gesagt
die kunst dient nicht zur beichte

er ist ratlos abgezogen
und ich denke darüber nach
wie gut es
mir doch geht

 

der fremde auf dem weißen stuhl

der niederländische maler karel appel fixiert ein wesen aus einer anderen welt. appel, mitgründer der künstlergruppe cobra, strebt nach einer unverstellten malerei des groben, primitiven, wilden, naiven und archaischen. zur zeit dieser aufnahme erlebt seine kunst ihren durchbruch in paris und die französische kulturszene ist fasziniert vom jazz und der „négritude“.

in appels atelier hat das personifizierte gegenteil alles groben, primitiven, wilden, archaischen und naiven platz genommen. das modell ist ein schwarzer intellektueller, der ernst und selbstbewusst in die kamera blickt. das einzig ungeordnete an seinem kontrollierten auftritt ist das versehentlich verrutschte jackett. wo jean cocteau, eine gallionsfigur der französischen kunstszene dieser jahre, immer leicht anämisch wirkt, strahlt die haltung des modells hier eine selbstgewisse virilität aus.

der mann, den appel porträtieren will, verbindet gegen ende dieser fünfziger jahre in schlüssiger form die amerikanische kultur mit den errungenschaften der klassischen europäischen musik und es sind gerade die grossen französischen impressionisten, die ihn inspirieren. seine komposition „so what“ zitiert ein 1909 komponiertes klavierstück von claude debussy.

appels rechte studie fokussiert sich auf die „magischen“ augen von miles davis – ein ansatz, den später auch der fotograf anton corbijn verfolgt. das gemälde links könnte eine skizze zu dizzy gillespie sein, der den weithin verbreiteten europäischen vorstellungen vom schwarzen jazzmusiker eher entsprochen hätte. doch im gegensatz zu gillespie macht davis nicht den eindruck, das er auch gerne mal den clown gibt.

der weiße stuhl ist ein regiestuhl und es besteht kein zweifel, wer hier regie führt.

 

Eichendorff vs Gryphius
Die österreichische Musicabanda Franui hat Joseph von Eichendorffs Gedicht „Es wandelt was wir schauen“ neu vertont. Die Zeilen
„Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb“
prägen sich tief ein. Habe ich bei Adornos Texten das postponierte Reflexiv immer als Marotte empfunden, ist es bei von Eichendorff der entscheidende Baustein im rhythmischen Gefüge. Die kunstvolle Form des Gedichtes hilft aber nicht über den inhaltlichen Bruch hinweg. Denn was für ein Schöpfer muss das sein, der erst das Leiden „wie ein Dieb“ ins Leben pflanzt, um es dann „mild“ über uns zu zerbrechen?
Andreas Gryphius, der sich wie kaum ein anderer mit unserer Sterblichkeit auseinandersetzte, umschiffte die Klippe mehr als ein Jahrhundert zuvor erstaunlich elegant, fast buddhistisch.

Joseph von Eichendorff (1788 – 1857)
Es wandelt, was wir schauen

Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.
Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.

Was gab es doch auf Erden,
Wer hielt‘ den Jammer aus,
Wer möcht geboren werden,
Hieltst Du nicht droben Haus!
Du bists, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen –
Darum so klag ich nicht


(Andreas Gryphius, 1616-1664)
Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht,
Die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht,
Die etwa möchten kommen;

Der Augenblick ist mein,
Und nehm ich den in acht
So ist der mein,
Der Jahr und Ewigkeit gemacht.

__________________________________________________________________________________________________